Briefe aus dem Kessel
Anbei einige Ausschnitte der Feldpost, die die Gefühle und
Gedanken der eingeschlossenen Soldaten in die Heimat schrieben.
Zeugnisse des Wahnsinns
Feldpost aus Stalingrad von
eingeschlossenen Soldaten
Erster Brief:
..In Stalingrad die Frage nach Gott stellen, heißt sie verneinen. Ich
muss Dir das sagen, lieber Vater, und es ist mir doppelt leid darum. Du hast
mich erzogen, weil mir die Mutter fehlte, und mir Gott immer vor die Augen
und die Seele gestellt.
Und doppelt bedaure ich meine Worte, weil es meine letzten sein werden, und
ich hiernach keine Worte mehr sprechen kann, die ausgleichen könnten und
versöhnen.
Du bist Seelsorger, Vater, und man sagt in seinem letzten Brief nur das, was
wahr ist oder von dem man glaubt, dass es wahr sein könnte. Ich habe Gott
gesucht in jedem Trichter, in jedem zerstörten Haus, an jeder Ecke, bei
jedem Kameraden, wenn ich in meinem loch lag, und am Himmel. Gott zeigte
sich nicht, wenn mein Herz nach ihm schrie. Die Häuser waren zerstört, die
Kameraden so tapfer und so feige wie ich, auf der Erde war Hunger und Mord,
vom Himmel kamen Bomben und Feuer, nur Gott war nicht da. Nein, Vater, es
gibt keinen Gott.
Wieder schreibe ich es und weiß, dass es entsetzlich ist und von mir nicht
wiedergutzumachen. Und wenn es doch einen Gott geben sollte, dann gibt es
ihn nur bei Euch, in den Gesangbüchern und Gebeten, den frommen Sprüchen der
Priester und Pastöre, dem Läuten der Glocken und dem Duft des Weihrauchs,
aber in Stalingrad nicht.
Zweiter Brief:
…Liebster Vater! Die Division ist ausgeschlackt für den Großkampf,
aber der Großkampf wird nicht stattfinden. Du wirst Dich wundern, dass ich
an Dich schreibe und an Deine Adresse im Amt, aber was ich in diesem Briefe
zu sagen habe, ist nur unter Männern zu sagen. Du wirst es in Dir eigenen
Form an Mutter weitergeben. Wir dürfen heute schreiben, heißt es bei uns.
Das bedeutet für einen, der die Lage kennt, wir können es nur noch einmal.
Du bist Oberst, lieber Vater, und Generalstäbler. Du weißt, was das
bedeutet, und mir ersparst Du damit Erklärungen, die sentimental klingen
könnten. Es ist Schluß. Ich denke, es wird noch etwa acht Tage lang gehen,
dann ist der Kragen zu. Ich will nicht nach gründen suchen, die man für oder
gegen unsere Situation ins Feld führen könnte. Diese Gründe sind jetzt
gänzlich unwichtig, und außerdem ohne Nutzen, aber wenn ich dazu etwas zu
sagen habe, dann das eine: sucht nicht nach Erklärungen für die Situation
bei uns, sondern bei Euch und bei dem, der dieses zu verantworten hat.
Haltet den Nacken steif. Du, Vater, und die mit Dir der gleichen Ansicht
sind. Seid auf der Hut, damit nicht größeres Unheil über unser Vaterland
kommt. Die Hölle an der Wolga soll Euch Warnung sein. Ich bitte Euch,
schlagt diese Erkenntnis nicht in den Wind.
Und nun noch zum Gegenwärtigen. Von der Division sind noch 69 Mann
verwendungsfähig. Bleyer lebt noch und Hartwig auch. Der kleine Degen hat
beide Arme verloren, er wird wohl bald in Deutschland sein. Für ihn ist auch
Schluß.
..Wir haben noch zwei MG und vierhundert Schuß. Einen Granatwerfer und zehn
Granaten. Sonst nur noch Kohldampf und Müdigkeit. Berg ist mit zwanzig Mann
ausgebrochen, ohne Befehl. Besser, in drei Tagen wissen, wie es ausgeht, als
in drei Wochen. Kann es ihm nicht verdenken.
Zum Schluß das Persönliche. Du kannst Dich darauf verlassen, dass alles
anständig zu Ende gehen wird. Ist ein bisschen früh mit dreißig Jahren, ich
weiß. Keine Sentiments. Händedruck für Lydia und Helene. Kuß für Mama
(vorsichtig sein, alter Herr, Herzfehler bedenken), Kuß für Gerda.
Grundsätzlich Gruß an alle übrigen. Hand an den Helm, Vater, Oberleutnant
meldet sich bei Dir ab.
Quelle: Letzte Briefe aus Stalingrad von 1960 / DIE QUADRIGA
Verlag Frankfurt
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